Seit nunmehr zwei Jahren befindet sich die Welt in einem Ausnahmezustand, hat mit den Folgen einer globalen Pandemie zu kämpfen. Diese Extremsituation verlangt Menschen und Unternehmen gleichermaßen vieles ab. Bei manchen macht sich Hoffnungslosigkeit breit, ideologische Lager stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber, Menschen fürchten um ihre Existenz. Von Woche zu Woche sind wir immer wieder gefordert, durchzuhalten, Mut zu entwickeln und weiterzumachen. Und nun, als sich gerade ein zartes Pflänzchen der Zuversicht zu entwickeln scheint, werden wir von verheerenden Meldungen und verstörenden Bildern aus der Ukraine erschüttert. Ein Krieg mitten in Europa, lange Zeit für undenkbar gehalten, wurde durch einen despotischen Machthaber vom Zaun gebrochen. Und wieder hält die Angst Einzug in unser Leben, wieder stellen sich viele Menschen existenzielle Zukunftsfragen.
Zurückgeworfen auf die grundlegendsten Bedürfnisse nach körperlicher und seelischer Unversehrtheit, Schutz und Sicherheit, mag es manchem beinahe zynisch erscheinen, sich Themen wie New Work, Agilität, hybriden Formen der Arbeit und Führung zu widmen. Wollen wir uns in diesem Moment tatsächlich mit virtueller Kommunikation, Unternehmenskultur oder der Suche nach Sinn und Purpose beschäftigen? Verweigern wir uns damit nicht der Realität und gleiten stattdessen ab in Scheindiskussionen über Luxusprobleme?
Zugegeben, diese Gefahr besteht. Wenn es uns jedoch gelingt, die Beschäftigung mit Werten, Sinn, Unternehmenskultur und Führung aus dem engen Feld der Arbeitswelt zu befreien und mit dem menschlichen Dasein, unserem Denken, unseren Ängsten, Zweifeln und lebensbestimmenden Fragen zu verbinden, kann sie uns auch in Zeiten wie diesen einen enormen Mehrwert bieten.
Genau das versucht Jitske Kramer in ihrem neuen Buch „Die Arbeit hat das Gebäude verlassen. Wie sich unsere Zusammenarbeit nach dem Corona-Kulturschock ändert.“
Jitske Kramer ist eine niederländische Kulturanthropologin, die seit über 20 Jahren als Unternehmerin, Facilitatorin, Sprecherin und Trainerin tätig ist. Mit ihrem Team von Human Dimensions berät und begleitet sie Unternehmen in Fragen kultureller Veränderung, Führung und Diversität. Sie wurde 2013/2014 vom niederländischen Verband professioneller Trainer zur Trainerin des Jahres ernannt und legte mit "Corporate Tribe" das Managementbuch des Jahres 2016 in den Niederlanden vor.
Ihr jüngstes Werk „Die Arbeit hat das Gebäude verlassen.“ ist in mehrerlei Hinsicht ein außergewöhnliches Buch. In zehn Tagen hat Kramer ihr Buch geschrieben, in Rekordzeit durchlief das Manuskript Lektorat, Verlag und Druckerei, um nach nur sechs Wochen in den Buchläden zu stehen. Und das alles, um ein Buch zu schreiben, das eine Stimmung, eine Momentaufnahme widerspiegelt, und damit Gefahr läuft, bereits in Kürze überholt zu sein? Oder ist gerade dies Kramers eigentliche Intention? Ein Buch vorzulegen, das allein durch die Form und den Prozess der Entstehung zeigt, wie volatil unsere Zeit geworden ist, wie wenig Verlässliches es noch gibt und wie rasch sich doch Stimmungen und Erkenntnisse verändern? Noch etwas anderes spricht für diese Interpretation. Die Autorin zitiert immer wieder aus LinkedIn-Posts, die Ihr während der Corona-Krise zugeschickt wurden. Diese virtuelle, digitale Kommunikation ersetzt die Face-to-Face-Gespräche und Beobachtungen, die der Kulturanthropologin in der Vor-Corona-Zeit eine wichtige Quelle waren. Nicht zufällig kennzeichnet sie diese Posts innerhalb ihres Textes durch die Bemerkung Erfahrung aus dem Feld. Doch Kramer geht noch weiter, sie spricht nicht nur über den Einsatz neuer, digitaler Techniken in Meetings und Zusammenkünften, sondern legt selbst eine Art multimediales Buch vor, das dem Leser Filme oder Interviews über QR-Codes zugänglich macht.
Im Oktober 2020 in den Niederlanden erschienen und rund ein Jahr danach auf Deutsch publiziert, finden sich selbstverständlich Passagen, die überholt erscheinen. Dennoch wirkt Kramers Text an keiner Stelle anachronistisch. Ganz im Gegenteil, er bietet einen ausgewogenen Mix aus kulturwissenschaftlichen und arbeitspsychologischen Deutungen der Corona-Krise, konkreten Tipps und Maßnahmen der Anwendung (z.B. zur Gestaltung von Online-Meetings und -Events, Check-ins oder digitalen Ritualen des Zusammenhalts) sowie beinahe poetische Passagen zur Bedeutung zentraler Themen, wie etwa unseres Umgangs mit Ängsten, Zweifel oder Stille.
Eine besondere Stärke erreicht der Text in den kulturanthropologisch geprägten Abschnitten des Buches. In Kapitel 8 etwa vergleicht Kramer Krise und Transformation. Sie bietet eine kulturanthropologische Interpretation an, die sich auf Victor Turners Ritualtheorie beruft und öffnet damit den Blick des Lesers für zentrale Fragen des individuellen Verhaltens ebenso wie der Kooperation in Gruppen. Die im Rahmen eines Transformationsprozesses stets enthaltene liminale Zwischenphase, in der das Alte seine Gültigkeit verloren hat und das Neue noch nicht klar erkennbar ist, wird in all ihren Facetten aufgezeigt. Die Autorin beschreibt die Gefahren dieser hochsensiblen Phase, die darin bestehen, entweder allzu schnell in altbekannte Muster zurückzufallen oder Sinn von Unsinn nicht unterscheiden zu können (man denke in diesem Zusammenhang nur an die zahlreichen Verschwörungstheorien, die sich im Netz in Windeseile verbreiten). Sie weist aber ebenso auf die großen Chancen hin, denn Liminalität beinhaltet immer auch eine enorme Schöpferkraft und damit das Potenzial, neue Wege einzuschlagen.
All jenen, die sich für die Veränderungen unserer Arbeitswelt interessieren und sich die Frage stellen, wie uns der Corona-Kulturschock nachhaltig verändern könnte, sei dieses gut lesbare und kluge Buch empfohlen. Lassen Sie mich mit einem Zitat von Jitske Kramer enden:
„Für Sie und mich ist eine Pandemie etwas Neues, doch als Menschheit haben wir schon häufiger große Katastrophen erlebt und überstanden. Ich hoffe, dass uns diese Reise an einen Ort bringt, an den wir gehören.“