Seit sich Menschen zu größeren Gruppen zusammengeschlossen haben und sesshaft wurden, waren sie bemüht, innerhalb ihrer Siedlungen zentrale Orte zu schaffen. Der zentrale Platz einer städtischen Siedlung diente verschiedenen Zwecken: es war der Ort, an dem die Menschen zusammenkamen, um Handel zu treiben, Feste zu feiern, den Göttern zu huldigen oder für die Gemeinschaft wichtige Neuigkeiten zu verkünden. Kulturübergreifend waren die zentralen Plätze vor allem eines: Orte der Zusammenkunft und Begegnung.
Dies galt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. In manchen ländlichen Gegenden (vor allem Südeuropas) kann man bis heute diese Bedeutung spüren, wenngleich auch dort durch Landflucht die Tradition der gesellschaftlichen Zusammenkünfte sichtlich abnimmt. In den Großstädten und Metropolen hingegen entwickelten sich die Innenstädte in den letzten Jahrzehnten zunehmend zu Handelszentren, in denen Menschen ihr Konsumbedürfnis stillen und Banken, Büros sowie Hotels ansässig sind. Die Zahl derer, die es sich noch leisten können, in den Innenstädten zu wohnen, nimmt dagegen beständig ab. Im Zuge dieser Entwicklung veröden die Innenstädte der westlichen Hemisphäre unter sozio-kulturellen Gesichtspunkten immer mehr und drohen zu „Nicht-Orten“ zu werden. Der französische Kulturanthropologe Marc Augé schreibt hierzu: „Der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit.“ (Marc Augé: „Nicht-Orte“, 2012: S. 104)
Seit die Corona-Pandemie in mehreren Wellen Handel, Gastronomie, Tourismus-Industrie, Hotels und Coworking Spaces nahezu zum Stillstand gebracht hat und sich in der Folgezeit Online-Handel, Homeoffice und Videokonferenzen prächtig entwickelten, hat sich die Sorge um die Zukunft der Innenstädte dramatisch gesteigert. Kommunen, Stadtplaner, Kunstschaffende, Gastronomen und vor allem Einzelhändler fragen sich, ob unsere Innenstädte überhaupt noch eine Zukunft haben oder zum Untergang verurteilt sind.
Nur selten dagegen hört man positive Stimmen, die über Chancen und Perspektiven berichten. Zu Unrecht, wie ich denke. Die Krise des Handels, der Gastronomie und des stationären Arbeitens deckt die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte schonungslos auf. Wir haben die Innenstädte, das sozio-kulturelle Herz unserer Städte, zu reinen Wirtschaftsstandorten und Konsummeilen verkommen lassen. Jetzt bietet sich die Chance, sie wieder ihrer ursprünglichen Bedeutung näherzubringen, als Ort der Begegnung und des gesellschaftlichen wie kulturellen Lebens. Wenn wir den Mut haben, radikal neue Konzepte in Erwägung zu ziehen, können wir unsere Innenstädte wieder zu Magneten machen, die Menschen von nah und fern anziehen, sie zusammenbringen und ihnen einmalige Erlebnisse schenken. Innenstädte könnten die Attraktivität von Jahrmärkten erhalten, bunter und lebendiger werden, indem wir neben Showrooms, Läden und gastronomischen Angeboten auch der Kleinkunst, dem Theater, Musikveranstaltungen, der sportlichen Betätigung und dem Spiel, vor allem für unsere Kinder, Raum geben. Es muss sich wieder lohnen, die Innenstädte zu besuchen. Und das gelingt nur, indem wir aus ihnen Orte des Erlebens, der Unterhaltung und der Zusammenkünfte machen. Lassen Sie uns die Nicht-Orte durch Orte der Begegnung und der sozialen Interaktion ersetzen. Dies würde nicht nur unseren Innenstädten guttun, sondern auch unserer gesamten Gesellschaft.